(Ik) Die Chain Gang

„Madeline…“, sagte ich eines Abends zu Mitch. „Du wärst genau ihr Typ, Mitch. Wenn wir wieder draußen sind, dann besuchen wir sie. Das heißt, das letzte Stück wirst du allein reiten müssen. Ich beschreibe dir den Weg – und dann machst du sie glücklich!“
„Ja“, antwortete Mitchel von der Pritsche unter meiner, ganz so, als wisse er nicht ebenso gut wie ich, was alles in acht Jahren passieren konnte. Aber es war das Einzige, was er – was irgendjemand – in unserer Situation sagen konnte.
„Ja“, wiederholte mein Zellengenosse daher, gefolgt von einem langen, herzhaften Gähnen. „So machen wir das.“
Diesmal hätte der Mann ebenso gut Hatschilarifari sagen können. Es ging lediglich darum, nicht aufzuhören zu reden, nicht in einer Verlängerung des Schweigens tagsüber zu erstarren. Und ich, ich hätte über Schneewittchen und die sieben Zwerge sprechen können. Es hätte keinen Unterschied gemacht, aber stattdessen kam ich immer wieder auf Madeleine zurück. Verdammt! Mit einem Fluch auf den Lippen drehte ich mich zur Wand.

Dort drüben würde gerade Jay Hille liegen und nicht einschlafen können. Zumindest behauptete er das stets: „Ich kann keine Ruhe finden, solange in meiner Nähe noch jemand denkt, Ellery.“
„Na, dann stellt dich Cottonbobs Anwesenheit im Gang ja vor keine Probleme“, hatte Mitchs gestrige Antwort gelautet. Bob Saddler, der Fluraufseher der Nachtschicht, fand das überhaupt nicht witzig.
Behauptete ich vorhin noch, Mitchel wisse, wann es besser sei, das Maul zu halten? Tja, hier kommt eine notwendige Ergänzung: Er richtet sich nicht immer nach diesem Wissen. Während andere Leute zufrieden mit ihrem Mädchen im Arm vor dem Kamin liegen, fühlt sich Mitch Finn erst so richtig lebendig, wenn er mit der anderen Hand das Feuer schüren kann.

Und deswegen nahmen wir am nächsten Morgen einen anderen Weg als sonst, Jay, Mitch und ich. Anstatt nach Verlassen unserer Zellen die Ketten mit den schweren Eisenkugeln um die Füße geschlossen zu bekommen, ging es hinunter in den Hof, wo eine andere Art von Ketten auf uns wartete.
Die bereits in den Morgenstunden dick und schwer über der Prärie stehende Luft schlug uns entgegen. Das Englische kannte keinen treffenderen Begriff für Wetter wie dieses als die Muttersprache meiner Eltern: „Was für eine Demmse!“
Cloud Hatch, der Jüngste unserer Wärter, der neben dem Dienstplan auch beide biblischen Testamente auswendig gelernt zu haben schien, versetzte mir einen Stoß.
„Hier wird nicht rumgeflucht!“ erklärte er in warnendem Tonfall.
Aber ich hatte nicht geflucht, jedenfalls nicht das altbewährte „damned“, das Hatch zu verstehen geglaubt hatte. Wenn ich fluchte, so tat ich das stets auf Deutsch, wie ich es im Elternhaus aufgeschnappt hatte. Machte natürlich keinen Sinn, das Hatch zu erklären versuchen.
„Und?“ knurrte ich stattdessen Mitch an. „Hast du nichts dazu zu sagen? Vielleicht etwas, das deine Leistung toppt, uns in den heißesten Wochen des Jahres einen Strafeinsatz im offenen Gelände eingebrockt zu haben? Dort draußen, wo es ohne Mauern auch keinen Schatten gibt?“
Mein Kamerad verfügte zumindest über so viel Einsicht, schuldbewusst dreinzublicken. Ich konnte ihn nicht weiter zur Schnecke machen, da wir nun zusammen mit weiteren Leidensgenossen zu einer langen Reihe formiert und mit Fußfesseln aneinander gekettet wurden. Das Kommando „Hände auf den Rücken!“ aus Hatchs Mund verhinderte überdies wirksam, dass ich meinen besten Freund erwürgen konnte, wie ich bereits seinen Vorgänger erschossen hatte.

Es wurden mehrere Züge gebildet. In unserem ging ganz vorn ein grobschlächtiger Kerl, den ich nicht namentlich kannte, dann folgte ein Schnösel namens Stoker, für den es vermutlich eine besondere Qual darstellte, einmal irgendwo nicht der erste zu sein, danach kam der Widerling Briody und schließlich Mitch und ich, gefolgt von Hille und dem kleinen Winters.
Ich spürte Jays Atem über meinen Haaransatz fahren, als der hochgewachsene Sioux hinter mir angekettet wurde. Kurz fragte ich mich, ob auch seine Gedanken ähnlich bittere, selbstzerstörerische Züge annahmen wie meine.
Jay Hille trug an diesem Morgen den dem roten Volk nachgesagten Stoizismus zur Schau, doch ich hatte längst herausgefunden, dass etwas anderes als die Hautfarbe diesen Mann vom Gros der restlichen Häftlinge unterschied: Jay verfügte über ein Bewusstsein der eigenen Schuld. Und genau wie ich wusste der Indianer, dass es unsere Taten nicht ungeschehen machte, wenn wir tonnenweise Felsbrocken zu Schotter für Eisenbahngleise verarbeiteten. Die Richter konnten keine schlimmere Strafe über uns verhängen, als sie uns der liebe Gott bereits in Form unseres Erinnerungsvermögens mitgegeben hatte. Allenfalls tat uns das Gefängnis einen Gefallen, indem es uns von der Außenwelt abkapselte, in der das Wissen um die Endgültigkeit unserer Handlungen, um die Unmöglichkeit des Ungeschehenmachens, uns die Hände gelähmt und eine normale Existenz unmöglich gemacht hätte.
Solche und ähnlich gelagerte Gedanken würden mich die wenigen Stunden über beherrschen, bevor die Erschöpfung sie wieder auf „Einatmen – Ausatmen – Versuchen, aufrecht stehen zu bleiben“ reduzierte.

In anderthalb Fuß Abstand zum Vordermann trotteten wir neben dem Wagen mit der Ausrüstung her, fort von den Mauern, welche den isoliert in der Ebene errichteten Gefängniskomplex umschlossen.
Wozu der Wagen? Es gab zwar eine kleine Außenküche für die außerhalb der Mauern beschäftigten Sträflinge, aber die wurde von anderswo beliefert. Vielleicht ging es Hatch, Meyers, Saddler und den anderen Wärtern auch nur darum, uns zusehen zu lassen, wie sie sich selbst auf dem Wagen fahren ließen…
„Es gäbe genügend freie Vehikel in der Strafanstalt, um alle fahren zu lassen“, murrte Harold Briody während des Marsches. „Mit denen wären wir schneller am Ziel, und es soll ja wohl der Sinn der Angelegenheit sein, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu schaffen!“
Der Mann hob den Kopf, um Cloud Hatch direkt anzublicken.
„Oder soll ich annehmen, dass es euch Spaß macht, uns zu schikanieren?“
Der junge Mann antwortete nicht. Er war sich einfach zu gut dafür, auf die Provokation eines Kerls, der vor dem Krieg unter anderem als Sklavenaufseher gearbeitet hatte, einzugehen. Noch nicht einmal zu einem „Schnauze halten“ gegenüber dem aufmüpfigen Briody ließ sich der Neuling hinreißen.
Ein schwaches Lächeln huschte über mein Gesicht und ich wollte schwören, dass es Mitch in diesem Augenblick genauso ging. Doch Hatchs Gelassenheit nützte uns nicht das Geringste, denn es war nun einmal nicht er, der die nächsten Tage über Gräben ausschachten würde müssen. Denn darin bestand unsere verschärfte Strafe.
Die Distriktverwaltung erhoffte sich durch das Anlegen von Kanälen eine Erleichterung für die hiesigen Farmer und Viehzüchter. Immerhin führte der Wrathfoam River, von dem wir die neuen Wasserarme abzwackten, ganzjährig mehr als genug Wasser, um ihnen über Zeiten der Dürre hinwegzuhelfen.

An die braven Siedler wurden wir von Zeit zu Zeit ebenfalls ausgeliehen, natürlich nur die vertrauenswürdigeren Exemplare. Die Rothaut Jay, Brandstifter wie Mitch oder gar Mörder wie ich selbst gehörten nicht dazu. Aber Jack Winters, der letzte in unserer Chain Gang, durfte immer mal wieder einem der Bauern zur Hand gehen. Er hatte eine Lieblingsfamilie, die den jungen Burschen ebenfalls gut leiden mochten. Etwas zu gut, wie sich herausgestellt hatte. Erst vor wenigen Tagen hatte die Tochter des Hauses Jack einen Kuss auf die Lippen gedrückt, ihre Mutter geschmunzelt, der Vater aber Jack verantwortlich gemacht und prompt die Anstaltsleitung informiert. Nun büßte der junge Mann dafür in unserer Strafkolonne. Mitch war für sein Mundwerk hier, Jay und ich, weil wir dabei gestanden und gelacht hatten. Stoker hatte ebenfalls aufsässige Reden geschwungen und Briody sich nicht verkneifen können, seine illegalen Landspekulationen im Indianergebiet noch aus der Zelle heraus weiterzuführen.
Aus all diesen verschiedenen Gründen trotteten wir den ganzen Tag lang auf unseren Einsatzort zu. Ein Fußmarsch von einem Tag erschien weit, doch befand sich unser Gefängnis für den Geschmack vieler Siedler noch immer viel zu nah an ihrem Land.

Gegen Mittag wurde eine längere Rast eingelegt. Wir erhielten jeder eine Dose Rindfleisch ausgehändigt. Die wenigen Löffel reichten gerade für diejenigen, die auch Wert auf derartige Werkzeuge legten: Stoker natürlich, aber auch Briody und Hille.
Nachdem wir einmal gesessen hatten, fiel der zweite Teil der Strecke schwerer. Es mussten öfter kurze Pausen eingelegt werden, während derer die drei Sieben-Mann-Züge um einen Platz im Schatten des Ausrüstungswagens kämpften, und nach denen wir versuchen mussten, unsere in Ketten steckenden Füße wieder dem jeweiligen Besitzer zuzuordnen.
Als wir schließlich an der Kanalbaustelle ankamen, war es bereits dunkel. Nach einer kalten Mahlzeit fielen wir auf unsere Decken unter improvisierten Verschlägen aus Zeltplanen und Holzplanken. Erst am nächsten Morgen wurde von uns erwartet zu arbeiten.
„Wenn die weißen Männer von Jenseits des Meeres nun schon mit weniger geeigneten Flächen für ihre Landwirtschaft Vorlieb nehmen müssen“, sinnierte Jay am nächsten Morgen laut, „Flächen, die sie mühsam bewässern müssen, wieso bleiben sie dann nicht daheim? Sehen sie nicht ein, dass das Land keine endlose Anzahl von ihnen ernähren kann?“
„Mit dem Land ist es wie mit den Schwarzen“, grinste Briody. „Man muss nur wissen, wie man sie antreibt.“
„Ganz genau“, ließ sich eine vertraute Stimme vernehmen. Bob Saddler rammte eine Schaufel vor dem Sträfling in den Boden. „Glaub mir“, versprach er Briody, „dass ich keinen entsprechenden Trick vergessen habe!“
Links und rechts von mir zuckten Mitch und Jay zusammen. Das leise Wimmern vom Ende der Kette kam von Jack Winters, dem bereits erwähnten unfreiwilligen Cassanova, einem vielleicht neunzehnjährigen Burschen mit schmalen Lippen. Der ohnehin schon eingeschüchterte Jack sah der Aufseherkonstellation des heutigen Tages mit noch größerer Sorge als der Rest von uns entgegen. Vorgestern Nacht hatte uns Saddler noch in unsere Zellen geschlossen, heute stand er neben uns in der Prärie. Wenn der Wechsel von der Nacht- zur Frühschichtwoche mit lediglich zwei Stunden Schlaf und einem eintönigen Tag auf einem zuckelnden Ausrüstungswagen einherging, war kein Gefängniswärter genießbar. Handelte es sich überdies noch um „Cottonbob“ Saddler, so addierte sich dessen ganz persönlicher Hintergrund in Kombination mit Briodys großspuriger Bemerkung zu einem höllischen Cocktail.

Weshalb die Schwarzen immer Bob, Ben oder Jim hießen, ließ sich für mich nicht nachvollziehen. Jedenfalls war Bob Saddler mit dem selben Schicksal geschlagen wie mein Waffenbruder im Krieg. Beide waren in Unfreiheit geboren, mit Namen gestraft, die allenfalls in Afrika interessant klangen und mussten doppelt so hart wie ein Weißer für dieselbe Anerkennung arbeiten. Im Falle eines Gefängniswärters bedeutete das: doppelt so unnachgiebig und gemein. War ein Mann dann auch noch vom Schicksal dazu verdammt, in der derselben Chain Gang arbeiten zu müssen wie Saddlers besonderer „Freund“ Harold Briody, wollte man gleich noch einmal einen Kumpel umbringen, um diese verschärfte Strafe auch wirklich verdient zu haben.
Ich schüttelte den Kopf in dem vergeblichen Versuch, mich von meinen flappsigen, dem Zurückliegenden völlig unangemessenen, Gedanken zu befreien, doch es wollte mir nicht gelingen. Während der Arbeit konzentrierte ich mich auf andere Erinnerungen als Johnny und Madeleine. Schaufel, Erde und Saddlers krauser Schopf ließen jene Stunden wieder aufsteigen, in denen Bob Gray und ich Seite an Seite Schützengräben ausgehoben hatten.
„Nein!“ hörte ich eine Stimme rufen, die ich erst kurz darauf als die meine erkannte. Was war nur mit mir los, dass ich selbst meinen Einsatz im Bürgerkrieg als schöne Erinnerung, in die es sich zu flüchten lohnte, betrachtete?!
„Alles klar?“ fragte Mitch besorgt. Ehe ich es mich versah, hatte ich alle meine Gedanken vor ihm wiederholt.
„Was ist mit dir?“ forschte ich. „Wieso geht es dir nicht genauso?“
„Ich war nicht im Krieg“, antwortete mein Freund ausweichend. Als er meine Miene sah, seufzte er. „Okay, El, dann eben ernsthaft. Ich leide deswegen nicht, weil ich wollte, was ich getan habe. So, nun weißt du´s.“
Es dauerte drei Sekunden, bevor ich seinen selbstgefälligen Gesichtsausdruck nicht mehr ertragen konnte. Mitchel Finn saß nicht wie ich wegen Totschlag, sondern Brandstiftung in Verbindung mit dreifachem Mordversuch. Ich war nicht nur ein Mörder, sondern auch der beste Freund eines solchen!

Während der nächsten Minuten merkte ich, wie sich Jay und Mitch über meinen Rücken hinweg austauschten, vermutlich ebenfalls über mich. Aber es war mir egal. Ich schippte Erdreich unter der glutheißen Sonne und vergaß, dass die Welt auch noch aus anderen Dingen als Erde und Schweiß bestand. Der grobe Stoff meiner schwarz-gelben Sträflingsuniform klebte auf meiner Haut. Der Anblick des Strichmusters lenkte meine Gedanken immer wieder zu dem Grund, aus dem ich diese Kleidung tragen musste, zurück zu Madeleine und Johnny. Die Kluft verhinderte, mich als etwas anderes als den Mörder meines besten Freundes zu begreifen. Doch dann ereignete sich etwas, das mir bewies, dass ich noch nicht gänzlich im Selbstmitleid ertrunken war, sondern noch zappelte und verdammt noch mal der Tiefe dieses inneren Tränenmeeres entkommen wollte!
Es begann ganz harmlos damit, dass „Cottonbob“ Saddler dem jungen Winters einen Hut über den Kopf stülpte. Einen Cowboyhut, der im Gegensatz zu den Käppis, die wir trotz der Konsequenzen zu verlegen pflegten, durch seine breite Krempe gegen die Sonne schützte.
Mit dem Deckel – wer weiß, wo Saddler den hier draußen aufgetrieben hatte? – verwandelte sich Jack von einem mageren Sträfling in einen schlaksigen Jugendlichen, der seinen Lebensunterhalt im Kanalbau verdiente. Vielleicht war ihm das selbst bewusst, oder es war viel eher die Erleichterung angesichts seiner persönlichen Schattenzone, die einen zufriedenen Ausdruck in Jack Winters Gesicht zauberte.

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